Das Traum-Ich

Christoph Gassmann, 2005

Im Verlaufe meiner langjährigen Auseinandersetzung mit meinen eigenen Träumen ist mir aufgefallen wie wichtig die Erwartungen und Befürchtungen des Traum-Ichs sind. Sie bestimmen zu einem guten Teil, wie ein Traum sich entwickelt, welche Wendung er nimmt. Wie sich herausstellte, trifft dies für gewöhnliche, als auch für luzide Träume zu. So möchte ich hier zur Illustration zwei kürzere Träume vorstellen:

18.8.2001 Ich fuhr mit dem Auto eine steile, verschneite und steinige Strasse hinunter. Dabei stellte ich mit Schrecken fest, dass es kein Steuer hatte, ich fuhr aber schon. Doch dann realisierte ich, dass dies gar nicht sein konnte, da es Autos ohne Steuer nicht gibt und ich sicherlich nicht losgefahren wäre, wenn es kein Steuer gehabt hätte. Als ich das realisierte, war das Steuer plötzlich da, bzw. ich nahm es wahr. Irgendwie hatte ich es vorher übersehen. Nun konnte ich sicher die gefährliche Strasse hinunter fahren.
Traum-Ich mit Bart

Als das Traum-Ich die steile, verschneite und steinige Strasse hinunter fuhr, bekam es Angst, es könnte die Beherrschung des Fahrzeuges verlieren. Diese Befürchtung führte Augenblicklich zu einer Umsetzung in das Traumgeschehen: das Steuerrad war weg. Doch das Traum-Ich denkt: „Das kann ja gar nicht sein, das ist unmöglich!“ – und schon ist das Steuerrad wieder da. Obwohl dies ein normaler Traum war, besass das Traum-Ich eine gewisse (präluzide) Bewusstheit um die Ereignisse in Frage zu stellen. Bei der ersten Beeinflussung des Traumgeschehens (das nicht existierende Steuerrad) war das Traum-Ich aber ziemlich unbewusst. Ein zweites Beispiel, diesmal ein luzider Traum:

22.6.2003 Ich war in einer felsigen Gegend am Meer. Ich realisierte, dass ich träume und begann zu fliegen. Ich genoss den Flug durch die herbstlich gefärbten Schluchten, durch die ich kurvte. Doch irgendwie war alles auch ein wenig unecht, was mir auffiel. Schliesslich war alles nur noch Papiermaché und löste sich danach ganz auf. Mein Zustand wechselte zu einem bildlosen bewussten Traumzustand und schliesslich zu einem traumlosen Schlaf. Kurz danach wachte ich auf und notierte den Traum.

Ich habe schon viele Male am Tag über den Realitätscharakter von Träumen und insbesondere von luziden Träumen nachgedacht. Letztere habe ich gelegentlich schon derart intensiv und real erlebt, dass ich dazu neige, sie als real, sogar als stärker als real anzusehen. Doch gibt es auch erhebliche intellektuelle Zweifel in mir und die haben sich in diesem luziden Traum ausgewirkt. Meine latenten Zweifel bewirkten, dass die Landschaft nach dem ersten Gefühlsüberschwang bald irgendwie unecht wirkten, wie gemacht, wie Papiermaché eben. Da mir dies auffiel, löste das in mir wiederum Assoziationen aus, dass Papiermaché nur etwas vorgibt und dass dahinter nichts ist - diese Vorstellung löste sofort jegliche Traumwahrnehmung aus. Ich war bewusst in einem schwarzen Nichts.

Traum_Iche ohne Nase

Diese Traumschilderung zeigt noch etwas: Es wird nicht beschrieben, wie das Traum-Ich auf die Traumereignisse reagiert. Ich vermute, dass viele Traumschilderungen so sind, es werden nur die „äusseren“ Ereignisse beschrieben. So ist auf den ersten Blick auch nicht zu erkennen, wie das Traum-Ich den weiteren Verlauf der Ereignisse beeinflusst. Deshalb möchte ich dem geneigten Leser vorschlagen, mehr darauf zu achten, was der Traum im träumenden Ich auslöst, und wie die Erwartungen und Befürchtungen des Traum-Ichs den Traum wiederum beeinflussen. Man kann sich auch fragen ob die Ereignisse im Traum vom Traum-Ich erwartet oder befürchtet wurden.

Ich glaube, dass das Traum-Ich ein wichtiger Gestalter der Träume ist, doch nicht alles lässt sich auf die Erwartungen und Befürchtungen des Traum-Ichs zurückführen. Wer oder was gestaltet ausserdem noch unsere Träume?

Christoph Gassmann, Horgen, Schweiz

Die Zeichnungen sind Selbstportraits von Christoph, wie er sich (das Traum-Ich) in verschiedenen Träumen sah: a) mit Rauschebart b) ohne Nase.

Besuche mahl Christoph seine Website: traumring.info