Der Zeuge und die Identität des Traum-Ichs

Christoph Gassmann, 2006

Immer wieder kommt es einmal vor, dass ich nicht als Handelnder an einem Traum teilnehme, sondern als Beobachter und Zeuge. Auch auf meiner Online Traumdeutungs- und Beratungsseite erhalte ich Anfragen zu diesem Thema, es ist also eine Traumform, die von verschiedensten Träumern gelegentlich beobachtet wird. Traumszene Es kann sein, dass der Träumer eine ganze Handlung als Zeuge erlebt, meist ist er dabei auch emotional vom Geschehen distanziert. Es kann aber auch sein, dass der Träumer seinen Beobachtungsposten verlässt und sich mit einem Akteur der Traumhandlung identifiziert. Meist geschieht das, wenn er sich emotional stärker von der Handlung angesprochen fühlt, positiv oder negativ. Aber auch das Umgekehrte ist gelegentlich zu beobachten, dass der Träumer plötzlich nicht mehr in der Handlung ist, sondern das Geschehen aus einer gewissen Distanz beobachtet. Schliesslich kommt es auch vor, dass der Träumer an der Traumszene als Handelnder teilnimmt und gleichzeitig das Ganze aus einer gewissen Distanz beobachtet.

Als Beispiel möchte ich einen kurzen Traum vorstellen, der diesen Sachverhalt illustriert:

G, die Freundin meiner Mutter, die auch eine gute Bekannte von mir war, lag im Sterben. Ich sah sie von einem erhöhten Standpunkt in ihrem Bett liegen. Dabei fiel mir besonders ein Luftbefeuchtungsapparat auf, der neben ihr auf dem Beistelltisch stand. Nun war ich aber plötzlich selber G und lag im Bett. Ich hörte die Stimme meiner Mutter, oder eben G’s bester Freundin, die von der Seite  zu mir sprach.

In diesem Traum sehen wir noch ein weiteres interessantes Phänomen, das möglicherweise öfters mit dem beobachtenden Traum-Ich zusammenhängt, nämlich die Identifikation mit einer bekannten oder unbekannten Person, die nicht mit der Identität des Träumers im Wachleben übereinstimmt. Aber darauf möchte ich später eingehen. Zuerst nochmals zum Traum-Ich, das als Zeuge eine Handlung erlebt. Wie wir gesehen haben, hat dies damit zu tun wie stark sich der Träumer von dem Geschehen angesprochen fühlt. Wenn der Träumer sich wenig angesprochen fühlt, aber auch wenn er zu stark emotional reagiert, kann es geschehen, dass er sich in der Beobachterpostion findet und dem Traumgeschehen aus (emotionaler) Distanz zuschaut. Letzteres ist eine Art psychologisches Notprogramm, das verhindert, dass der Träumer emotional überladen wird. Ein ähnlicher psychologischer Selbstschutz ist auch aus dem Wachleben bekannt, bei Unfällen oder bei anderen schwer traumatischen Situationen findet sich der Erlebende plötzlich als beobachtender Zeuge ausserhalb des Geschehens oder er erlebt das ganze aus emotionaler Distanz.

Beobachten Ein weiterer Umstand könnte ebenfalls zu solchen Traumerlebnissen aus Beobachterposition führen, nämlich die Fähigkeit des Träumers, seine eigene Person, seine Rolle, die er üblicherweise am Tag spielt, aufzugeben. Zumindest in der Nacht, wenn er physisch und psychisch entspannt ist, gelingt es ihm, sich aus seiner Identifikation mit den Eigenschaften, die er am Tag an sich kennt, zu lösen. Es mag sein, dass ihm das auch gelegentlich am Tag gelingt, indem er sich emotional nicht so sehr in die alltäglichen Probleme verstricken lässt und damit eine gewisse gestalterische Freiheit bewahren kann. Seine Ich-Struktur mag daher auch am Tage nicht so rigide sein. Es ist im Übrigen bekannt, dass Leute, die am Tage eine regelmässige Meditationspraxis pflegen, häufiger solche Träume haben. Das konnte am Beispiel von Praktizierenden der Transzendentalen Meditation nachgewiesen werden.

Nun möchte ich noch auf das oben erwähnte Phänomen eingehen, dass der Träumer sich mit einer anderen Person als mit seinem vom Wachen bekannten Ich identifiziert. Dieses Phänomen ist mit dem losgelösten Traum-Ich verwandt und tritt gelegentlich zusammen mit jenem auf, wie wir das oben an dem kleinen Traumbeispiel gesehen haben. Der Identitätswechsel ist besonders auffällig, wenn es sich um eine Person des anderen Geschlechts handelt, aber auch Träume gehören meiner Meinung nach zu dieser Kategorie, in denen der Träumer einen völlig anderen Beruf ausübt, in denen er in einem anderen Land oder einem völlig anderen sozialen Milieu lebt. Ich glaube ausserdem, dass häufig dieses Phänomen übersehen wird, weil erstens ein solcher Traum vom wachen Ich als blanker Unfug erlebt wird und zweitens weil das Traum-Ich sich kaum über äussere Merkmale identifiziert, sondern es für selbstverständlich hält, dass es das „Ich bin, der ich bin“ ist, dass es ein Bewusstseinszentrum, ein Wahrnehmungsfeld ohne äussere Eigenschaften ist, das verschiedenste Erfahrungen macht, darunter gehören auch verschiedene äussere Identitäten wie Geschlechtszugehörigkeit, Nationalität, soziale Position etc. Dies ist in der Tat ein Identitätsbewusstsein, das in unserem Kulturkreis als äusserst fremdartig beurteilt wird.

Insgesamt zeigt dies, dass das Traum-Ich mit seiner Identität sehr flexibel umgehen kann, dass es in der Lage ist, dessen Eigenschaften zu wechseln. Das Traum-Ich ist also flexibler als das wache Ich. Anderseits müssen wir aber erkennen, dass auch das wache Ich kein starrer Holzklotz ist, zum Beispiel wenn es sich in verschiedenen Tätigkeitsfeldern wie Arbeitsplatz und Familie bewegt, wenn es schauspielert, wenn es im Internet oder in Computerspielen andere Identitäten pflegt, oder wenn es sich beim Lesen oder im Kino mit einer Hauptfigur identifiziert. Ausserdem zeigt es sich, dass das Traum-Ich bis zur Verschmelzung und im Nu sich in eine andere Person einfühlen und dabei sich vollständig mit ihr identifizieren kann. Seine flexible Identität, seine emphatischen Fähigkeit stellt also seine Identität und Integrität keineswegs in Frage. Daraus lässt sich schliessen, dass das Erfahrungsspektrum des Traum-Ichs grösser und weiter ist, als dasjenige des wachen Ichs. Das wache Ich erscheint dem gegenüber als enger, konzentrierter, aber auch als stabiler.

Christoph Gassmann, Horgen, Schweiz
traumring.info