Traumgedanken

Christoph Gassmann, 2008

Traum Gedanken

Träume sind Schäume, sagt der Volksmund. Sie sind Blasen, die aus den Tiefen des Unbewussten aufsteigen und beim Erreichen der Oberfläche des Bewusstseins platzen, oder dort noch ein Weilchen verweilen, bevor sie vergehen. Darum ist es für den Trauminteressierten anfänglich schwierig, Träume zu erhaschen und für sein Tagesbewusstsein zugänglich zu machen. Sofortiges memorieren und aufschreiben hilft da wesentlich. Wo anfänglich nur Traumfetzen und -bilder oder gar nur Stimmungen im Bewusstsein bleiben, können mit der Zeit ganze Geschichten und eventuell Details, wie Farbe, Form, Geruch, aber auch Gefühle und Stimmungen erinnert werden. Der Traum wird dann im Gedächtnis plastischer und der Trauminteressierte beginnt zu realisieren, dass er im Traum in einer Welt Erfahrungen machte, die ebenso realistisch und detailreich ist, wie die Welt am Tag. Es mag wohl eine Traumwelt sein, die eine psychische Welt ist, doch von der Erfahrung her ist sie genau so real. Dem Träumer mag es gar gelingen, mit Training und Übung bewusst in diese Traumwelt einzutauchen. Er wird dort mit grossem Erstaunen und Entzücken feststellen, dass er in einer zweiten Welt lebt, in der er die Dinge sieht, fühlt und schmeckt, wie in der wachen Welt. Er ist dann nicht mehr auf Secondhanderfahrungen aus seinem Gedächtnis angewiesen, die nicht die ganze Realität einer Erfahrung wiedergeben, sondern bloss ein müder Abklatsch davon.

Träume sind also Erfahrungen in einer psychischen, aber realen Welt, die im nachhinein nur darum so einen blassen und irrealen Eindruck hinterlassen, weil man sich nicht ernsthaft darum bemüht und seine Aufmerksamkeit nicht gezielt auf diese reiche Ereigniswelt richtet. Doch gibt es Zwischenstufen von Traumerfahrungen, in denen die sinnlichen Erlebnisse nicht mehr so plastisch und nur andeutungsweise zu erkennen sind. Hingegen treten Gedanken und Gespräche mit Traumfiguren in den Vordergrund. Diese können so dominant werden, dass der Traum nur noch aus Gedanken und Dialogen besteht. Ich nenne diese Form des Träumens „Traumgedanken“. Ich kenne diese Traumform eher aus den frühen Morgenstunden, wo der Schlaf flacher wird. Der Traum beginnt als voll ausgeprägtes, sinnliches Erlebnis, doch beginne ich langsam etwas wacher zu werden und beginne dabei etwas über die Geschehnisse, die mir widerfahren, zu reflektieren. Es kann dabei durchaus vorkommen, dass mir dabei klar wird, dass ich träume. Doch würde ich diese Form nicht als luziden Traum, oder Klartraum bezeichnen, denn mein klarer werdendes Bewusstsein befindet sich nicht mehr voll im Traum, sondern erlebt diesen etwas aus der Ferne und nicht mehr so plastisch. Dies lässt sich vielleicht mit dem Leser eines Buches vergleichen, der nicht ganz in der Geschichte drin ist, sondern noch vage weis, dass er ein Buch in der Hand hält, liest, und die Seiten blättert. Das Interessante an diesen Traumgedanken ist, dass sie weiterhin die Traumgeschichte recht autonom vorantreiben und ich in einem relativ passiven Zustand verfolge, wie sich die Ereignisse entwickeln. Dabei treten gelegentlich reflektierende Gedanken auf und Fragen zum Traumverlauf, welche diesen beeinflussen. Das setzt sich einige Minuten fort, bis die Traumereignisse immer unsinnlicher und schaler werden. Die Traumgeschichte beginnt sich tot zu laufen. Gelegentlich beginnt sie sich zu wiederholen, wie eine alte Schallplatte, die einen Kratzer hat. Dann muss ich dem Treiben bewusst ein Ende setzen, indem ich mich kräftig mit dem physischen Körper bewege. Bei anderen Gelegenheiten wird der Gehalt des Gedankens immer dünner, bis die Quelle dieses Rinnsals endgültig versiegt und ich realisiere, dass ich endgültig wach ist.

Zur Veranschaulichung möchte ich hier ein Beispiel anfügen:

Traum Gedanken Nachdem ich soeben noch mit meinem Schiff, und mit zwei anderen mir bekannten Männern durch einen Kanal fuhr, war ich jetzt mit eben diesen Leuten zu Fuss unterwegs in einem alten Städtchen mit hohen, mindestens fünf bis sechsstöckigen Häusern. Vor kurzem hatten wir gerade noch eine etwas heikle Flussbiegung passiert, in der die Strömung uns auf die Aussenseite der Biegung trieb. Nun aber führte uns einer der beiden Männer, der ortskundig war, durch eine enge und recht dunkle Gasse, durch die man nur gehen durfte, wenn man Boccia spielte. Die einfache Passage war verboten. So mussten wir die schweren Steinkugeln von der Strasse hochheben und nach der kleinen Kugel schiessen, die dort lag. Dabei musste man sie aber entlang einem Gehsteigrand rollen lassen, ohne dass sie über den Bordstein runterfallen durfte, was gar nicht so einfach war.

Schliesslich waren wir durch. In der nächsten Gasse war es noch dusterer, man konnte kaum die eigene Hand vor den Augen sehen und so verirrten wir uns fast blind in einem Laden, einem Schuhladen, wie sich bald herausstellte. Ein altes Männlein bot uns Schuhe an, die aber gar nicht recht passen wollten. Er hat kaum eine Auswahl. Wir fanden trotzdem etwas für den einen, doch als der Alte die Schuhe einpackte, kroch eine grosse fette, schwarze Spinne aus der Schachtel, was uns anwiderte. Auch roch es sehr modrig in dem Laden, man sah kaum etwas, geschweige denn das, was man gekauft hatte. Wir wunderten uns, wie der Laden wohl funktionieren konnte. Der Verkäufer ging kurz nach hinten, weil das Telefon klingelte und so nutzten wir die Gelegenheit, den modrigen und verkommenen Laden fluchtartig zu verlassen. Beim Verlassen hörten wir aber noch, wie offenbar jemand anrief, der ein paar braune Schuhe mit grünen Lederkappen bestellte. Das Geschäft schien demnach doch noch halbwegs zu funktionieren. Als wir auf der dunklen Gasse waren, schaute ich zurück, um mir den Ort zu merken, wo der Laden war, doch der war plötzlich verschwunden. Ich wunderte mich sehr, das konnte doch nicht sein. Ich kannte dieses Phänomen aus meinen Träumen, weshalb ich mich am folgenden Tag nochmals umsehen wollte, was Sache sei.

Als ich tags darauf nochmals dasselbe Gässchen aufsuchte war der Laden nicht aufzufinden, er blieb buchstäblich verschwunden. Ich stand vor einem Rätsel. So fragte ich die Anwohner nach dem Laden. Die lachten und meinten, der Laden existiere nur alle paar Wochen. Er befinde sich hinter diesem geschlossenen Fensterladen und sei darum nicht zu erkennen. In der Tat war da ein einfacher unscheinbarer, geschlossener Türladen, ohne Kennzeichnung, ohne Schild.

So ging ich später wieder hin, als das Geschäft offen war. Ich fragte das dürre Männlein, ob er denn Geschäfte mache. Er erklärte mir, dass er eigentlich Schuhmacher sei und nicht Verkäufer. Er arbeite auf Bestellung. Er habe nur ein paar Schuhe übrig, die er nicht ganz aufs Mass gemacht hatte, weshalb er neue anfertigte und die anderen im Geschäft für Passanten bereit hielt. Vielleicht komme ja jemand, dem die Schuhe passen würden. Aber es sei ihm schon klar, dass sich nicht viele Passanten in sein Geschäft verirren würden, so alt und modrig die Räumlichkeit doch war. Wir seien ja wohl auch aus dem Laden geflohen, weil die fette Spinne aus der Schachtel gekrochen war. Er habe das schon bemerkt. Eigentlich hätte er den Laden schon lange aufgeben sollen, er habe auch genug Geld verdient, doch er hänge noch an ihm und habe nichts Weiteres zu tun. Für eine Renovation sei er aber zu alt. Falls das Haus verkauft und abgebrochen werde, gebe er natürlich das Geschäft sofort auf.
Traum Gedanken

Der Traum beginnt mit einem Szenenwechsel, der so glatt und gleichzeitig so abrupt ist, dass er vom Traum-Ich gar nicht bemerkt wird. Dies ist ein typisches Zeichen für einen Traum. Bei Traumgedanken kommt so was nicht vor. Sinnliche Daten, wie die Düsterkeit der Gassen und die Schwere der Steinkugeln werden eindrücklich erlebt. Auch im zweiten Abschnitt ist das Traumerlebnis noch sinnlich, doch da beginnen sich erste reflektierende Gedanken einzuschleichen: Wie kann dieser verkommene Laden noch funktionieren? Auch dass ich beim Verlassen des Ladens zurückschaue und realisiere, dass der Laden verschwunden ist, weist auf das zunehmend erwachende Bewusstsein hin. Ich erinnere mich, dass in Träumen Personen, Gegenstände und Szenen gelegentlich verschwinden, sobald man seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt hat. Deshalb schaue ich zurück und meine Erwartung wird erfüllt, der Laden ist weg. Nun folgt ein Zeitsprung, es ist der folgende Tag, an dem ich nochmals diesen Ort aufsuche. Doch nun sind fast keine Sinnesdaten mehr vorhanden. Die visuellen Eindrücke sind schwach und das Gespräch mit den Anwohnern dominiert. Ein erneuter Zeitsprung folgt, ich suche nun den Ladenbesitzer nochmals auf und er erklärt mir den Sachverhalt. Diese beiden letzten Abschnitte werden also von Dialogen dominiert und sie dienen vor allem der Erklärung von Unstimmigkeiten, die sich im ursprünglichen Traum ergaben: Wie konnte dieser Laden funktionieren? Der Traum war eine unvollkommene Gestalt, an der sich das erwachende und zunehmend kritische Bewusstsein stiess. Diese Unvollkommenheit musste durch rationale Erklärungen vervollständigt werden, damit der Traum abgeschlossen werden konnte. Sobald eine befriedigende Erklärung da war, endete der Traumgedanke. Die Zeitsprünge sind von anderer Natur als der Szenenwechsel am Anfang des Traumes. Sie werden aus rationalen Gründen eingefügt, damit die Geschichte stimmig bleibt. Der eigentliche Traum endet, als ich mit meinen Kollegen den Laden verlasse und mich von ihm entferne. Der erste Zeitsprung erfolgt, um plausibel darzustellen, warum ich den Platz nochmals aufsuche, der zweite Zeitsprung erfolgt, um darzustellen, warum ich mit dem Ladenbesitzer sprechen kann, obwohl der Laden nach dem ersten Zeitsprung geschlossen war. Für den Szenenwechsel am Anfang des Traumes kann ich keine rationalen Gründe finden, er scheint eher assoziativer Natur zu sein. Die Traumpersonen sind die gleichen, auch die Handlung, das „unterwegs sein“ ist dieselbe, nur die Traumszene wechselt.

Ich habe im Laufe von über 25 Jahren viele Träume notiert, die so in Form von längeren Traumgedanken ausklingen. Diese finden, wie gesagt, meist am frühen Morgen statt. Das Aufwachen ist dann leichter und fliessender. Wache ich mitten in der Nacht nach einem Traum auf, so tue ich dies meist abrupter, der Übergang vom Traum- zum Wachzustand ist weniger fliessend. Dann ist mein Bewusstseinszustand aber mehr getrübt und „groggy“. Es braucht dann mehr Willen und Anstrengung, um mich zu überwinden, meine Gedanken zu sammeln und den Traum aufzuschreiben.

Die Traumgedanken sind für mich ein übliches Phänomen, umso mehr erstaunt hat es mich, dass ich in der relevanten Literatur kaum auf eine Beschreibung gestossen bin, die darauf hinweist, dass dieser Sachverhalt bekannt ist. Einzig Freud hat mit seinen Überlegungen zum primär- und sekundärprozesshaften Denken in dieser Richtung geforscht. Ich habe aber den Verdacht, dass das ein sehr verbreitetes Phänomen ist, das bloss übersehen wird, weil es so selbstverständlich ist und weil sich zu wenige Leute bewusst und sorgfältig mit ihren Träumen auseinandersetzen.

Christoph Gassmann, Horgen, Schweiz
traumring.info