Unterwegs

Christoph Gassmann, 2010

Seit 1982 führe ich ein Traumjournal und habe von Beginn weg die Träume in verschiedene Themengruppen kategorisiert. Mit meinen 28 Altersjahren standen damals meine Herkunftsfamilie, Beziehungen zum anderen Geschlecht, zu Freunden und zu Gruppen, sowie mein Berufsleben im Vordergrund. Aber schon damals spielte das Thema „unterwegs“ eine wichtige Rolle. Mit dieser Rubrik signiere ich Träume, in denen ich zu Fuss, mit dem Auto, Tram, Zug oder Flugzeug unterwegs bin. Auch Hotelaufenthalte gehören für mich zu dieser Kategorie. Strassen, Bahnhöfe und Stationen gehören auch dazu. Heute, nach weiteren 28 Jahren ist diese Themenkategorie an den 1. Platz der jährlichen Themenrangliste gerückt. In einigen der letzten Jahre schwingt sie sogar weit oben aus. Offensichtlich ist für mich das Unterwegssein ein sehr wichtiges Motiv geworden.

Von der Bedeutung her gesehen ist das Unterwegssein natürlich ein zentrales menschliches Thema. Es bedeutet die Bewegung und die Veränderung des Lebens schlechthin. Schon das Vergehen der Lebenszeit mit seinen wichtigen Stationen der Kindheit, der Jugend, des Erwachsenenalters, des Älterwerdens und des Alters zwingt uns, sich mit verschiedenen Lebensthemen auseinandersetzen, und diese schliesslich auch hinter sich zurückzulassen. So durchwandern wir unsere Lebensspanne und verweilen an gewissen Orten, um wieder aufzubrechen und weiterzuziehen. Mal geht es schnell, mal langsam, manchmal müssen wir sogar ein Stück Weg zurück. Gelegentlich wissen wir an einer Weggabelung unseres Lebensweges nicht, welche Richtung wir einschlagen sollten, oder wir bereuen im Nachhinein, nicht den anderen Weg genommen zu haben. Das Thema des Unterwegssein im Traum hat aber auch eine andere Bedeutung: Wir durchwandern in der Nacht unsere Seele und betreten dort bekannte und weniger bekannte Regionen.

In den frühen Jahren meines Traumjournals fanden die Träume oft an Orten statt, die mir aus dem Wachleben vertraut waren. Ich war in dem Haus, wo ich einen grossen Teil meiner Kindheit verbracht hatte, war in der Schule, im Internat oder war unterwegs in der Gegend, die ich aus meinem Wachleben gut kannte: Die Stadt Zürich und deren weitere Umgebung, sowie eine Bergregion, wo ich immer wieder einmal meine Ferien verbrachte und heute noch verbringe. Auch damals war ich im Traum recht oft unterwegs. Zusammen mit meinen Reisen im Wachleben dehnte sich der Erlebniskreis in meinen Träumen aus. Ich war unterwegs in verschiedenen europäischen Ländern, aber auch in Amerika und selten in Asien, teilweise an Orten, die ich im Wachleben nie besucht oder gesehen habe.

Es häuften sich Träume, in denen ich im Süden von Frankreich unterwegs war, obwohl ich damals aus dem Wachleben vor allem Paris kannte, was in mir eine gewisse Ratlosigkeit hervorrief: Warum das südliche Frankreich? Im Wachleben kannte ich Italien, Deutschland und England besser. Südfrankreich war ausserdem keineswegs eine Gegend die mich am Tag faszinierte und die mir deshalb wenig bedeutete. Gibt es Faktoren, die meine Träume beeinflussen, die ausserhalb meines persönlichen Lebens liegen? Wenn ja, was für Faktoren sind das, fragte ich mich.

Heute und in einigen der letzten Jahre ist in meinen Träumen das Thema Unterwegssein wie oben schon erwähnt, das Wichtigste geworden. Gleichzeitig träume ich schon lange nicht mehr von meinem Elternhaus, aber auch kaum noch von meinem aktuellen Zuhause. Häufig bin ich in Gegenden unterwegs, die ich aus meinem Wachleben nicht kenne. Auch wohne ich im Traum an Orten, die mir unbekannt sind. Immer noch spielen Beziehungen eine wichtige Rolle, doch zu Menschen die mir im Wachleben unbekannt sind. Das Thema Beruf spielt auch heute eine wesentliche Rolle, aber ich arbeite an Orten, an denen ich im Wachleben nie war und gelegentlich habe ich einen Beruf, der nichts mit meinem tatsächlichen Beruf zu tun hat.

Und zu guter Letzt ist eine Thematik wichtiger geworden, die etwas exotisch wirken mag: Ausserirdische! Anfänglich hatte ich Träume, in denen Ausserirdische auf diese Welt kamen. Heute bin ich unterwegs in ihren Welten, ich besuche sie. Bisher waren es immer humanoide Ausserirdische, aber keineswegs Menschen. Deren Lebensführung weist wohl gewisse Übereinstimmungen mit dem menschlichen Leben auf, teilweise haben sie aber ganz andere Gepflogenheiten. Sie haben wohl zwei Arme, zwei Beine und einen Kopf, aber ihre Anatomie im Inneren des Körpers und auch die Sexualorgane unterscheiden sich. Eine gewisse Affinität habe ich beispielsweise zu einer Art Maschinen¬menschen, oder Biomechanoiden, denen ich im Zeitraum von mehreren Jahren einige Male in verschiedenen Träumen begegnete. Aber auch andere humanoide Lebewesen lernte ich kennen, die gewisse Ähnlichkeit zu Tieren hatten. Einmal befand ich mich schon in der Situation von Guliver, ich war viel zu gross für ihre Verhältnisse.

So erhalte ich insgesamt den Eindruck, dass mein Traumleben immer weitere Kreise zieht. Meine „Heimatstation“ habe ich schon lange verlassen und meine nächtlichen Exkursionen führen mich immer weiter weg in seelische Gebiete hinein, die weder direkt mit meinem persönlichen Leben zu tun haben, noch mit den allgemein menschlichen Konditionen, wie sie aus unserer gemeinsamen Welt bekannt sind.

So bin ich neugierig, wohin mich mein innerer Lebenspfad noch führen wird. Auch frage ich mich, ob die Seele begrenzt ist, oder sich offen in den Weiten des Vorstellbaren und Unvorstellbaren verliert.

Christoph Gassmann, Horgen, Schweiz
traumring.info